Wer bei einem Hausbesuch freundlich anklopft, der will, dass ihm geöffnet werde. Die Frage stellt sich mit dem „WIRKMITTEL 90 Patrone DM11, Spreng“ nicht. Wenn das zum Einsatz kommt, ist offen, was geöffnet werden soll. Und wenn der Hausbesitzer in Deckung gehen wollte, liegt er nach der Wirkung der neuen Waffe auch final am Boden. Kein Wunder also, dass sich die Bundeswehr dafür entschieden hat, seinen Spezialkräften – KSK und KSM –  diesen Universalschlüssel zu beschaffen: Auf dem Gelände des Siegerländer Unternehmens Dynamit Nobel Defence (DND) wurde am 21. September 2017 im Rahmen einer Übergabeveranstaltung offiziell die erste dieser Handwaffen mit Feuerleitvisier feierlich an die Bundeswehr übergeben. Die Entwicklung dieser ganz neu konzipierte Generation von schweren Handwaffensystemen hat 12 Jahre gedauert.

Klein, aber oho: WIRKMITTEL 90

Schulterartillerie für Soldaten im Einsatz ist notwendige Waffe. Heutigen Konflikte – asymmetrische Auseinandersetzungen bis hin zu hybriden Kriegsführungen – kommen vielfach mit wenig schwerem Gerät aus.  Spezialkräfte müssen deshalb über eine Ausrüstung verfügen, die in all diesen Szenarien eingesetzt werden kann. Von den unterschiedlichen Bedrohungsspektren wird aber insgesamt die Bewaffnung der Streitkräfte beeinflusst, die dieser militärischen Herausforderung genügen müssen. Was bei den Spezialkräften wirkt, taugt auch für die reguläre schwere Infanteriebewaffnung: sie muss 1. weitreichend (abstandsfähig), 2. in der Wirkung einstellbar und 3. gegen ein breites Zielspektrum einsetzbar sein. Klein, aber oho. Mit einem harten Punch.

Die vom Unternehmen DND entwickelte Handwaffenfamilie WIRKMITTEL 90 mit der Patrone DM11 und dem Feuerleitvisier wurde für die speziellen Aufgaben des Kommandos Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr entwickelt. Deshalb liegen die besonderen Eigenschaften dieses Waffensystems in der hohen Reichweite von 1.200 Metern und in dem dreifach einstellbaren Gefechtskopf, der in der Lage ist, bei Aufschlag mit und ohne Verzögerung sowie in der Luft zu detonieren. Diese Flexibilität ermöglicht es dem Nutzer, Fahrzeuge und Stellungen direkt oder auch hinter Deckungen sowie Ziele in der Fläche zu bekämpfen.Dazu verfügt die nur 8,9 Kilogramm schwere Waffe – für den internationalen Markt als RGW 90 LRMP (Long Range Multi-Purpose) bezeichnet – über einen Feuerleitrechner mit Zieloptik und ein Zielsystem, welches eine hohe Ersttrefferwahrscheinlichkeit auf diese große Entfernungen gegen bewegliche sowie stehende Ziele ermöglicht.

Die weitreichende Handwaffe dieser WIRKMITTEL-90-Variante mit Feuerleitvisier und einem programmierbaren und multifunktionalen Gefechtskopf ist wesentlich leichter als ein heutiger Lenkflugkörper. Sie ist von einem Soldaten zu bedienen und kann, ausgerüstet mit dem dafür entwickelten modernen Triebwerk, leicht Reichweiten von 1.200 Metern oder mehr erreichen. Das Geschoss wird dabei während des ganzen Fluges angetrieben und ist daher sehr seitenwindstabil.

Diese neuen technischen Eigenschaften des Waffensystems ermöglichen es, die Lücke zwischen der Kampfreichweite einer Lenkwaffe und einem handgehaltenen Rohrwaffensystems effektiv zu schließen. So ist es den Spezialkräften möglich, Ziele in einer relativ großen Entfernung zu bekämpfen. Dies war bisher nur mit einer der erheblich teureren Lenkwaffen möglich, deren Gefechtskopf nur auf ein sehr schmales Zielspektrum hin optimiert ist. Bedingt durch die technologische Möglichkeit, auf einen programmierbaren Gefechtskopf zurückzugreifen, hat der Soldat damit ein Waffensystem zur Verfügung, welches sich noch besser seinem militärischen Auftrag anpassen lässt. Es handelt sich dabei außerdem um ein Waffensystem welches von dem Soldaten auch aus geschlossenen Räumen heraus verschossen werden kann. Damit wurde für den Infanteristen der Bundeswehr eine Fähigkeitslücke im Bereich des direkten und indirekten Feuers geschlossen.

RGW 90 Long Range Multi-Purpose

Als Grundlage für die Entwicklung des WIRKMITTELs 90mm (heute RGW 90 LRMP) direktes und indirektes Feuer Spezialkräfte (SpezKr)‹ wurde bei DND auf die bereits in Serienfertigung und im Einsatz befindliche Handwaffe vom Typ „RGW 90 ASM“ (Anti-Struktur-Munition) zurückgegriffen. Hier im Video zu sehen:

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Somit wurden die Länge von einem Meter, das Kaliber 90mm, die Abfeuerungsvorrichtung sowie das rückstoßfreie Davis-Kanonenprinzip übernommen, um das Waffensystem weiterhin aus geschlossenen Räumen abfeuern zu können. Angestrebt wurden neben der Kampfreichweite von 1.200 Metern und dem Gesamtgewicht von 8,6kg auch eine kompakte Bauweise für eine leichtere Tragbarkeit. Mehr Informationen zum RGW 90.

Die einschüssige, nicht nachladbare RGW 90 LRMP sollte in jedem Falle gegen unterschiedliche Ziele wirken können und deshalb zusätzlich über einen programmierbaren Gefechtskopf verfügen. Darüber hinaus sollte sich eine leistungsstarke und querschnittlich nutzbare optische Einrichtung an der Waffe befinden, die über einen Feuerleitrechner verfügt. Diese für die Handwaffe geforderte Visiereinrichtung wurde vom süddeutschen Unternehmen HENSOLDT entwickelt. Mit Hilfe dieser Einrichtung sollte auch die Möglichkeit einer hohen Ersttrefferwahrscheinlichkeit über alle Kampfentfernungen für den Soldaten erreicht werden. Mehr Informationen zum HENSOLDT Feuerleitvisier. 

Der LRMP-Gefechtskopf

Die militärischen Vorteile des programmierbaren Gefechtskopfes sind vielfältig. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund des breiten Einsatzspektrums, in dem die RGW 90 LRMP eingesetzt werden kann.
Der neuentwickelte multifunktionale Gefechtskopf ist für den Einsatz gegen militärische Feldstellungen, Unterstände, Mauerwerk, leicht gepanzerte Fahrzeuge, Boote und Flugzeuge und den Einsatz innerhalb von Gebäuden optimiert. Diese unterschiedlichen Ziele erfordern einen leistungsfähigen und starken Gefechtskopf. So wirkt dieser, je nach beschossenem Zieltyp, beim Aufschlag als Splitter- oder Blastgefechtskopf oder als High Explosive Squash Head (HESH/Quetschkopf). Der Gefechtskopf kann auch über einem Ziel in der Luft zur Detonation gebracht werden. 3.500 Kugeln aus Schwermetall hinterlassen einen bleibenden Eindruck.

Mit Hilfe des Splittergefechtskopfes können bei der Explosion 1,5mm starke Stahlplatten durchschlagen werden. Die Splitter wirken auch gegen mit Sandsäcken oder Holz verstärkte Deckungen. Darüber hinaus gewährleistet der Gefechtskopf bei einer Luftdetonation eine hohe Splitterwirkung auf einer Fläche von 16 Metern Breite und 8 Metern Tiefe, was sich unter anderem als sehr effektiv erweisen kann, wenn stehende Flugzeuge/Hubschrauber auf einem Fliegerhorst, angreifende Speedboote auf See oder in der Luft schwebende Drehflügler bekämpft werden müssen. Mehr Informationen zum WIRKMITTEL 90. 

Andere Gefechtsköpfe

Die WIRKMITTEL-90-Familie verfügt auch noch über weitere Wirkladungen. Beispielsweise über einen Gefechtskopf, der infrarotdeckenden Tarnnebel enthält – durch Patrone Nebel (DM15). Dieser Nebel kann eigene Kräfte vor gegnerischen verbergen, Sichtverbindungen über eine längere Zeit unterbrechen oder auch zur Täuschung des Gegners eingesetzt werden. Unter der Ausnutzung der maximalen Kampfreichweite von 1.200m ist ein Schütze in der Lage, auf dem Gefechtsfeld mit Hilfe der DM15 eine Nebelwand mit einer Breite von ca. 25m über die Dauer von einer Minute zu generieren. Die Nebelwand baut sich dabei in wenigen Sekunden auf. Ebenso steht neben einer klassischen Leuchtmunition auch eine Infrarot-Leuchtmunition zur Verfügung, die das Gefechtsfeld über eine längere Zeit beleuchtet. Dieses Lichtspektrum kann mit Hilfe einer Infrarotbrille oder optronischer Nachtsichtsysteme sichtbar gemacht werden. Kommandotruppen können so einen Gefechtsfeldabschnitt für den Gegner »unauffällig beleuchten«, um diese aufzuklären und gegebenenfalls zu bekämpfen. Die Patronen Leucht Infrarot (DM16) und Leucht visuell (DM26) dienen beide der weitreichenden Gefechtsfeldbeleuchtung im sichtbaren sowie nichtsichtbaren Spektrum und können auf eine Entfernung von bis zu 1.700m zur Wirkung gebracht werden. Nach dem Ausstoß eines Leuchtkörpers bringt ein kleiner Fallschirm den Leuchtsatz mit geringer Sinkgeschwindigkeit innerhalb einer Minute zu Boden. Dabei brennt dieser ab und beleuchtet einen Radius von mehreren hundert Metern.

Die Patrone Übung (DM18) dient der realitätsnahen Ausbildung der Schützen bei gleichzeitig stark verringerten Sicherheitsbereichen. Aufschlag bzw. Zündung des Gefechtskopfs werden durch einen Blitzknall in Verbindung mit einem roten Darstellungseffekt abgebildet. Unter realistischen Bedingungen wird so die Schießausbildung im scharfen Schuss ermöglicht.

Zukunft des neuen Waffensystems

Das Waffensystem RGW 90 LRMP ist die logische und technische Fortsetzung des Familiengedankens, der neuen RGW-90-Familie von DND, die mit unterschiedlichen Gefechtsköpfen angeboten wird. Nachdem die bisher von DND gebauten RGW-90-Handwaffen hauptsächlich gegen urbane und gepanzerte Ziele konzipiert waren, kann die RGW 90 LRMP ein völlig anderes Zielspektrum bekämpfen, welches in dieser Bandbreite bisher für den Infanteristen nicht abzudecken war. Die Bundeswehr erhielt nach Angaben des Unternehmens bisher 1.700 WIRKMITTEL 90 und rund 200 Feuerleitvisiere des Unternehmens HENSOLDT. Zusätzlich werden noch 900 Nebel-, Licht- und Ausbildungsgeschosse des WIRKMITTEL 90 von der Bundeswehr beschafft. Auch andere NATO-Nationen seien sehr an der DND-Entwicklung interessiert, so DND-Geschäftsführer Michael Humbek bei der Übergabe.

DYNAMIT NOBEL DEFENCE im Internet: http://dn-defence.com