Der Islamische Staat verbreitet Terror und Schrecken, das ist bewusst gewollt. Wer im Westen meint, das habe „mit Islam nichts zu tun“, erliegt einer  Illusion. Sicher, es handelt sich um eine extremistische Auslegung der Religion Mohammeds, aber gerade der internationale Zustrom zeigt, wie attraktiv der Erfolg der „marodierenden Räuber- und Mörderbande“ ist. Sie schaffen etwas ganz Erstaunliches: den Übergang von der Guerilla zur befreiten Zone, vom Untergrund zum regulären Gefecht. Und sie haben dort, wo sie sich festsetzen und ihren extremen Islam verpflichtend machen, scheinbar Rückhalt.

Der Aufstand schafft ein Gebiet, in dem die Islamisten das Sagen haben, gleichzeitig bringt diese Tat dem IS eine Anziehungskraft, die ihm noch mehr Freiwillige und Kämpfer zuführt. Dabei ist der IS ein „Staat“, den es nach westlicher und wohl auch Sicht der meisten Nahoststaaten nicht geben darf.

Videos und Bilder von Massenhinrichtung, geköpfte Gegner, Ermordete pflastern den Weg der ISIS, die vor zwei Monaten das Kalifat ausgerufen haben und damit alle Muslime auffordern sich ihnen anzuschließen. Im Westen neigt man dazu sie als „Räuber- und Mörderbande“ und Terroristen abzutun, doch das trifft es nicht ganz, denn der Name, den sie sich selbst gegeben haben, deklariert dass sie einen Staat gründen, einen, der aber die alten Grenzen überwindet.

Die erste Grenze, die gefallen ist, ist jene zwischen Syrien und Irak. Rakka ist die offizielle Hauptstadt des Islamischen Staates, Mosul die heimliche. Ihr Staat hat im Moment die Fläche Großbritanniens. Seit Beginn ihrer Expansion haben sie keinen substanziellen Rückschlag erlitten.
Die IS verfügen über Leute, die politische und militärische Fähigkeiten haben. In ihrer Struktur trifft sich die zehnjährige Erfahrung des Untergrundkampfes von al-Qaida im Irak gegen Schiiten und US-Streitkräfte mit dem Strukturwissen der Kräfte des alten Saddam Regimes. Der Erfolg beruht wohl auch auf kaum überwindbaren religiösen und ethnischen Konflikten in der Region (von ISIS mit Terror bewusst verschärft), die wiederum auf künstlichen Grenzen, die noch aus der Kolonialzeit stammen. Dennoch war es überraschend, mit welcher Wucht ISIS vom Untergrundkampf zur offenen Feldschlacht übergegangen ist. Der Erfolg hängt mit dem Übelaufen der sunnitischen Minderheit zusammen. Wie militärisch schwach der Gegner ist, kann man daran ermessen, dass die von den Amerikanern geschaffene Irakische Armee vom Feld gefegt wurde. Konkretes Beispiel: Mosul wurde von rund 400 ISIS Kämpfern eingenommen, ihnen standen rund drei Divisionen (Armee, Polizei, Nationalgarde) gegenüber, die kampflos geflüchtet sind. (HIER: Das Versagen der irakischen Armee.) Dass die Islamisten Bagdad noch nicht angegriffen haben, ist wohl deren bewusste Entscheidung um ihre Linien nicht zu überdehnen.

ISIS kommt ihr brutaler und massenmedial gut gepflegter Ruf, dem Gegner keine Gnade zu geben zugute: Hinrichtungen vermutlich tausender irakischer Soldaten sollen zeigen „Wenn ihr gegen uns kämpft, wird es euch so ergehen.“ Maos Guerilla Grundregel wird konsequent angewendet: „Zwischen uns und dem Feind einen klaren Trennungsstrich ziehen!“

Gleichzeitig bietet sich der Islamische Staat der Zivilbevölkerung als gnädiger Partner an, wer den Treueid ablegt, wird akzeptiert, IS scheint zunehmend Rückhalt in der Bevölkerung ihrer Gebiete zu haben. Dazu setzen sie auch symbolische Gesten: als erstes werden Polizeistationen, Militärstützpunkte, Checkpoints dem Erboden gleich gemacht und beseitigt. Dann folgt die Anwendung der Scharia, des islamischen Rechts im öffentlichen Raum mit Hinrichtungen. Die neue Verwaltung gliedert sich in militärische und zivile Komitees. Wo sich Widerstand auch nur Ansatzweise regt, wird er gebrochen: so wurden 700 Männer des Schweitat-Stammes, der sich weigerte dem IS Treue zu schwören, geschlossen liquidiert.

Die militärische Kapazität der IS ergibt sich aus einem Kern erfahrener Untergrundkämpfer plus dem strukturellen Wissen ehemaliger Offiziere der Armee Saddam Husseins. So soll den Militärrat des Islamischen Staates ein ehemaliger Oberstleutnant leiten. Die Truppen, meinen arabische Medien, seien inzwischen auf 100.000 Kämpfer angewachsen. Wohl, eine Angstzahl, die nicht die reale Stärke wiedergibt, auch wenn die Kämpfer anderer syrischer Oppositionsgruppen nun zum IS überlaufen und sie aus den im Irak besetzten Gebieten neue Kämpfer rekrutieren. Was an den ISIS und IS Kampfvideos auffällt, ist dass die Kämpfer recht diszipliniert und koordiniert wirken. Die Spezialität bleibt eine dynamische Angriffsform in der Pickup-Kolonne (geht inzwischen auch mit gepanzerten Humvees), die an einen Kavallerieangriff erinnert.

Ihr Ziel ist es, ihren „Staat“ zu stabilisieren und auszubauen. Und dann auszuweiten, weit über Syrien und Irak hinaus. IS ist ein postnationales und postkolonialistisches Projekt. Es verspricht verführerisch jedem Muslim Anerkennung, Erfolg, Heil – wenn er sich ihnen anschließt und „rechtgläubig“ ist. Und ihr Erfolg gibt ihnen gerade enormen Zulauf, auch wenn man nicht sagen kann, wie das in ein paar Monaten ausschauen wird. Der Islamische Staat investiert bewusst in eine professionelle Medienarbeit. Zielgruppengerechte Videos, Internetseiten, Sozial Media Kanäle wenden sich an Einheimische und Ausländer. Neueste Wendung ist eine „Werbekampagne“ in Pakistan, die Taliban dazu auffordert sich dem IS als Kämpfer anzuschließen.

In neuen Videos geht es nicht immer nur um Kämpfer, sondern auch darum, dass Anwerbung zum Aufbau betrieben wird. Für jeden sei Platz im neuen Kalifat, heißt es in einem Propagandafilm. Jeder kann zum Aufbau des Staates beitragen durch das, was er machen kann. Man suche auch Leute, die Häuser bauen können, in der Infrastruktur arbeiten etc. Der Islamische Staat unterscheidet sich dadurch konsequent von al-Qaida. Die hatte sich den Kampf gegen den „fernen Feind“ – die USA, den Westen – auf die Fahne geheftet. Ihre Kämpfer sollten auch dorthin gehen, in Untergrundzellen arbeiten und Anschläge verüben. ISIS und der Islamische Staat bevorzugen die andere Richtung, die Kämpfer sollen zu ihnen kommen, um die befreite Zone zu sichern und auszuweiten. Der internationale Kampf scheint sekundär – auch wenn das trügerisch ist, denn alle die von draußen kommen, können als ausgebildete Kämpfer und als „menschliche Cruise Missile“ (sprich Selbstmordattentäter) oder als Kampfelemente schnell wieder dorthin zurückkehren.

Das Beunruhigende: der IS versteht sich als ein Angebot an jeden Muslim, sich ihm anzuschließen (im Bild li.: das Cover der dritten Ausgabe von „Dabiq“, dem englischsprachigen Magazin des Islamischen Staates). Dass der Staat jetzt hier zwischen Syrien und Irak entsteht, hängt nur mit Entstehungsgeschichte von ISIS zusammen. Theoretisch jedoch könnte er überall auftauchen, er könnte auch ein zweites und drittes Staatsgebiet irgendwo in der muslimischen Welt entfalten. Schafft ein, zwei, viele Vietnams … Der IS, wie er jetzt liegt, wird sich nicht damit begnügen, auf Syrien und Irak beschränkt zu bleiben, er ist expansiv gedacht. Zunächst in der Region Nahosten, hier gibt es sicher genug Radikale zu mobilisieren. In letzter Konsequenz visionär auf die ganze moslemische Welt bezogen, denn dafür haben sie ja den Kalifen, damit man sich ihm anschließen kann. Konsequent größenwahnsinnig gedacht, ist es aber ein Weltkrieg zur Erlösung der ganzen Welt.

Die Entwicklung ist auch ein strategisches Problem, das vor allem ein Faustschlag in das Gesicht der USA ist: Der „War on Terror“ begann mit der Besetzung Afghanistans 2001, weil dort die Trainingslager der al-Qaida präsent waren. Die Streitkräftes des Westens stehen inzwischen dort vor dem Abzug, ohne das Problem Taliban im Land auch nur ansatzweise gelöst zu haben. Aus dem Irak sind die Amerikaner schon seit 2011 weg, was sie zurückgelassen haben, war eine „intakte“, von ihnen aufgebaute Armee. Die jetzige Explosion von ISIS zum Islamischen Staat bei Verschmelzung der sunnitischen Gebiete Syriens und Iraks und Abgrenzung der schiitischen und kurdischen Territorien auf dem ehemaligen Staatsgebiet des Iraks wirft das alles über den Haufen. Die Terrorlager der Islamisten sind nun, 13 Jahre nach dem Anfang des Kampfes in Afghanistan, im Nahen Osten zu Hause und damit deutlich näher an Europa gerückt.

Ein vollwertiges Bodenengagement gegen IS mit einer neuerlichen Intervention ist nicht in Sicht, auch wenn IS die Amerikaner mit Köpfungen von US-Journalisten vor laufender Kamera regelrecht „anlocken“ will. Special Forces allein und Luftschläge (übrigens bis jetzt sehr zurückhaltend) werden den Kampf nicht entscheiden. Alles deutet auf einen Stellvertreterkrieg hin, bei dem Waffen in die Region gepumpt werden. Je mehr die Kurden davon bekommen, desto selbstbewusster werden sie auf einen eigenen Staat drängen, den sie sich erkämpfen, abseits der irakischen Nationalarmee, die schiitisiert. Sie hat ihre letzte Chance für den Irak, wenn sie Mosul rückerobern kann, wenn nicht ist es ein finales Scheitern. Die geopolitischen Szenarien für die Region sind atemberaubend. Der Islamische Staat im Moment nicht zu vernichten.

„Wir sind gekommen um zu bleiben“, singen „Wir sind Helden“. Liedzeile und Bandtitel sind die ideale Kombination, um den Islamischen Staat zu beschreiben. Noch ist nicht in Sicht, wie dieser terroristische Gottesstaat zum Verschwinden gebracht werden könnte.

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